Moralische Wirkung der Farben | Dynamik der Farben | Das lebendige Wesen der Farben
Goetheanistische bzw, anthroposophische Malerei | Schöpferische Tat der Farben | Darstellende Malerei? | Aquarell-Malerei
 
 
     
 

VON DER THEORIE GOETHES ZU EINER NEUEN RICHTUNG IN DER DARSTELLENDEN KUNST

DIE MORALISCHE WIRKUNG DER FARBEN

Im VI Kapitel seiner „Farbenlehre“ mit dem Titel „Die moralische Wirkung der Farben“ unterstreicht Goethe gerade die besonderen objektiven Empfindungen, die von den einzelnen Farben und ihrer Annäherung untereinander in der Seele des Beobachters hervorgerufen werden. Das Argument ist dann später von Rudolf Steiner weiter ausgeführt worden, besonders in dem Vortrags-Zyklus mit dem Titel „Das Wesen der Farben“, sowie auch in anderen Zyklen.

Farbstudie
Aus den über die „Sprache der Farben“ erworbenen neuen Erkenntnissen ergeben sich dank der Intuitionen Steiners umfassende und originelle Möglichkeiten, eine ansprechende, lebendige und neue „Sprache der Farben“ in der Malerei zu verwirklichen, aber nicht nur hier, sondern auch in anderen Bereichen wie der Kunsttherapie, der Erziehung, der Ausbildung usw.

DAS BLAU strahlt nach innen

Die besonderen objektiven Empfindungen, um die es sich dabei handelt, sind Eindrücke, welche über diejenigen der allgemeinen Sympathie und Antipathie, des Gefallens oder Missfallens, die jeder gegenüber den Farben erleben kann, hinausgehen. Diese haben absolut individuellen und daher subjektiven Charakter und tauchen unmittelbar aus den oberen Schichten der Seele auf. Goethe bezieht sich dagegen auf Empfindungen, die in den tieferen Schichten der Seele erlebt werden und vollkommen objektiven (also nicht individuellen) Charakter haben, da sie der den Farben eigenen Natur angehören. Sie werden intim wahrgenommen, wenn man die Farben betrachtet und sie dabei frei auf die Seele wirken lässt, in innerem Schweigen, das heisst ohne gleich persönliche Gefühle oder Urteile voranzustellen, die gewöhnlich die Tendenz haben, mit spontaner Unmittelbarkeit aufzutauchen.

Diese Eigenart bietet weite Möglichkeiten, Farbkompositionen zu verwirklichen, die geeignet sind, intimere und neue Empfindungen im Betrachter hervorzurufen, das heisst, eine neue und lebendigere malerische Sprache.

Goethe und Steiner geben genau an, welches die objektiven Empfindungen sind - somit unabhängig vom persönlichen Geschmack – die von den einzelnen Farben und ihren Verbindungen geweckt werden. Dies kann jeder erproben. Es muss aber auch erwähnt werden, dass diese Erfahrung sich nur ergibt, wenn die einzelnen Farben und ihre Verknüpfung unter Beachtung des Wesens jeder einzelnen Farbe durchgeführt werden und demnach nicht von Notwendigkeiten der Illustration oder von persönlichen Gefühlen des Malers bedingt sind.

DAS GELB strahlt sich ausdehnend; es lässt sich nicht vom BLAU einschliessen und hellt es zum GRÜN auf, es läuft ihm den Rang ab oder flieht.

Wenn der Maler ein goetheanistisches Bild anfertigen will, dann muss er vor allem durch achtsame Übungen seine Sensibilität verfeinern, um das Wesen der einzelnen Farben und ihrer Kombinationen zu erfassen. Das wird noch wesentlicher, wenn die Komposition sich durch hinzufügen anderer Farben entwickelt.

Farbstudie

DIE DYNAMIK DER FARBEN

Rudolf Steiner, und auf seinen Spuren auch der berühmte Maler Kandinsky, lenkte die Aufmerksamkeit auf bestimmte innere Bewegungen der Seele, die im Unterbewusstsein während der Betrachtung der Farben erlebt werden. Es handelt sich um intime Empfindungen von Konzentration, Ausdehnung oder Entspannung, die auf dem äusseren Plan mit der Dynamik verglichen werden können, die als zentripetale, zentrifugale oder statische Kräfte bekannt ist.

So wird zum Beispiel das Blau von der Seele als Bewegung erlebt, die zu einem zentralen Punkt strebt indem es sich in sich selbst einschliesst (Konzentration), das Gelb wie eine Bewegung der Ausdehnung nach aussen, das Rot als Element des Gleichgewichts zwischen den entgegengesetzten dynamischen Kräften und somit als Entspannung. All dies kommt zu den bereits bekannten perspektivischen Eigenschaften der Farben wie Entfernung, Annäherung, Aggressivität oder Ruhe hinzu..

DAS GELB strahlt sich ausdehnend; es lässt sich nicht vom BLAU einschliessen und hellt es zum GRÜN auf, es läuft ihm den Rang ab oder flieht

Indem man die folgenden Elemente:
- 1.die von den einzelnen Farben und die von ihren verschiedenen Verbindungsmöglichkeiten miteinander erzeugten objektiven Eindrücke;
- 2.die innere Bewegungen der Seele:
  (a)Konzentration, Expansion oder Gleichgewicht;
  (b)Entfernung, Annäherung, Aggressivität oder Ruhe;

in Betracht zieht, wird die Durchführung des von Steiner angeregten malerischen Verfahrens möglich, worin die Farben – anstatt den Erfordernissen einer Zeichnung oder dem Ausdruck von persönlichen Emotionen des Künstlers unterworfen zu sein – in einer Art und Weise verwendet und ausgeführt würden, die dasjenige an die Oberfläche der Seele bringt, was gewöhnlich im Unterbewussten erlebt wird.

Es handelt sich also darum, die Farben mit den sowohl von Goethe als auch von Steiner angegebenen Verhältnissen und Dynamiken so nebeneinander zu setzen, übereinander zu schichten oder zu bewegen, dass sie ihre expressive Kraft voll zum Ausdruck bringen können. Diese wird gewöhnlich „abgetötet, wenn die Farben nicht frei gelassen werden, sich ihrem Wesen gemäss zu offenbaren, sondern einer Zeichnung untergeordnet werden oder eine besondere individuelle Emotion ausdrücken sollen.

DAS ROT auf GELB wird erlebt als ORANGE und wird aktiv, das GELB wird warm

Wie schon gesagt, besteht die Grundbedingung für die Schaffung eines Bildes, das den beschriebenen Eigenschaften entspricht, in der Fähigkeit des Künstlers, derart intensiv in die Farbe einzutauchen, dass er sie erlebt und bewusst ihr Wesen und ihre Forderungen wahrnimmt. Jeder Mensch hat die Veranlagung, diese Fähigkeit zu entwickeln, wenn er sich mit Fleiss und intensiver Arbeit in dem Erleben der einzelnen Farben und der verschiedenen möglichen Verbindungen miteinander in dem von Goethe beschriebenen Sinne übt.

Farbstudie
Eine künstlerische Komposition, die das Ziel hat, die Absichten Goethes zu verwirklichen, beginnt also mit einem einfachen Erleben von Farben die nebeneinander gesetzt werden, sich übereinander schichten, sich im Raum bewegen, wobei sie gleichzeitig das Eingreifen anderer Farben fordern. Und alles dies nur, indem man die Forderungen ihrer Natur und die nach und nach sich ergebenden Situationen berücksichtigt. Auf diese Weise wird eine fortlaufende Folge von chromatischen Metamorphosen erzeugt, bis die Komposition einen vollendeten Sinn erreicht hat. Und weil der Künstler bei der Durchführung weder einen eigenen Plan noch persönliche Emotionen, sondern die natürlichen Erfordernisse der Farben verfolgt hat, wird er fähig, intime und lebendige Emotionen zu wecken.

DAS LEBENDIGE WESEN DER FARBEN

Zum besseren Verständnis des goetheanistischen Vorgehens soll präzisiert werden, dass die objektiven Empfindungen der Farben eigentlich erst wirklich erlebt werden, wenn sie in ihrem ursprünglichen Wesen, das heisst als Licht, erscheinen.

Und in der Tat, nach der Auffassung Goethes und Steiners wird behauptet, dass die Farben als spezielle und unterschiedliche Manifestationen des Lichtes zur Erscheinung kommen. Das, was wir als Farbe an den Dingen erleben, sind in Wirklichkeit nur verschiedene Aspekte der Manifestation der Licht-Farben, die von der Materie eingefangen und in ihr verdichtet wurden.

DAS ROT lässt sich nicht vom BLAU einschliessen, es erklingt im BLAU.

Das wahre Wesen der Farben ist also reines Licht. Dasselbe wird von uns in verschiedenen Farbqualitäten wahrgenommen. Das Licht als in den Räumen des Universums fliessende „Essenz“ trifft auf Situationen und Bedingungen, welche ihm ermöglichen, eine stärkere oder schwächere Strahlung zur Wirkung zu bringen, bis hin zur wirklichen Behinderung seiner Ausdehnung, und das bedeutet, bis zum Auftreten der Finsternis. All dies ist für das Auge wahrnehmbar als Farbphänomene verschiedener Qualität, je nach den Umständen.

Da in den Räumen des Universums unablässige und dauernd veränderliche Wechselwirkungen zwischen Licht und Finsternis stattfinden, so ist auch das Auftreten von verschiedenen Farbqualitäten unablässig und veränderlich. Aus ihrem sich miteinander Verweben kommen Formen und Gestalten zur Erscheinung. Das bringt Rudolf Steiner zu der Aussage: „Die Farben sind Taten des Lichtes.

In seiner „Farbenlehre“ hat Goethe zahlreiche Beispiele von Phänomenen angeführt, die aus dem sich Verweben von Licht und Finsternis entstehen.

Wenn wir die fliessende Aktivität der Farben im Licht betrachten und uns in sie versenken, erlebt unsere Seele in ihrem tiefsten Inneren jene, deren Wesen eigenen, lebhaften Empfindungen, wie sie von Goethe und Steiner beschrieben werden. Diese Erfahrung bildet für Steiner die Grundlage und den Ausgangspunkt für die Anregung zu malerischen Werken.

DIE GOETHEANISTISCHE ODER ANTROPOSOPHISCHE MALEREI

Bei malerischen Kompositionen hat man dagegen mit der Materie und nicht mit Licht-Farbe zu tun. Dies ist der Punkt, wo die Kenntnis der von Steiner beschriebenen verborgenen Seelenregungen ihre grosse, grundlegende und unausweichliche Bedeutung erlangt.

ROT und BLAU: Entwicklung von Bewegung

In der Tat, wenn der Künstler dies berücksichtigt und seine Farben so anlegt, dass er äusserlich jene intimen Bewegungen der Seele wieder erzeugt (zentrifugal, zentripetal, Ausdehnung) und sie unterstützt in allen möglichen Reaktionen, Spannungen und Modifikationen, die sich im Lauf der Ausarbeitung und infolge der Begegnung und des Zusammenstosses von entgegengesetzten dynamischen Kräften ergeben, dann wird es geschehen, dass der Betrachter jene pulsierenden, lebendigen und faszinierenden objektiven Empfindungen erleben wird, die normalerweise gegenüber der Licht-Farbe erlebt werden, auch wenn diese jetzt im Gemälde in Form von einfachem Pigment, das heisst von Materie auftritt. Wenn dies nicht beachtet wird, dann werden die Farben nur wie einfache farbige Oberflächen erscheinen – vielleicht sogar schön und ansprechend – aber ohne Leben.

Aus dieser besonderen und originellen Vorgehensweise ergibt sich eine andere und neue Art zu malen, die – als Dank gegenüber der Ursprungsquelle – von Balduino als „goetheanistisch“ bezeichnet wird. Andere, und es sind die meisten, ziehen es, in Anbetracht der Tatsache, dass die oben dargestellte Konzeption des effektiven Wesens der Farben auf die umfassendere anthroposophische Weltauffassung zurückzuführen ist, vor, sie als „anthroposophische“ oder „steinersche Malerei“ zu bezeichnen.

Es muss hier klargestellt werden, dass die goetheanistische Kunstmalerei, von der hier die Rede ist, nicht zu verwechseln ist mit der in der steinerschen Pädagogik angewendeten oder der therapeutischen Malerei. Beide haben jedoch den gleichen Ursprung, die aber andersartige Ziele und damit verfolgen sie die Anwendung anderer Modalitäten. Das hier beschriebene malerische Verfahren hat ausschliesslich künstlerische Absichten und unterscheidet sich daher eindeutig von anderen Formen steinerscher Malerei, schon wegen seiner unterschiedlichen und komplexeren Methoden.

Aus dem Vorangehenden wird deutlich, dass das Verständnis eines nach den Prinzipien der anthroposophischen oder goetheanistischen Malerei ausgeführten künstlerischen Schaffens demnach im Schaffen von Gemälden besteht, in welchen die Farben und die Formen, ihren natürlichen Bedürfnissen folgend, entstehen und sich verwandeln, wie bei der Licht-Farbe, und im Mikrokosmos – das heisst in der Farbkomposition – ein Leben analog dem fliessenden Leben im Makrokosmos entwickeln.

Ein echtes anthroposophisches oder goetheanistisches Gemälde wird daher niemals die Kopie oder Reproduktion irgendeines Modells sein, sondern eine originelle Schöpfung, aus den Bildekräften der in der Komposition verwendeten Farben, wie sie in analoger Weise in der im Universum fliessenden Licht-Farbe wirksam sind.

Dal BIANCO al BLU sviluppo di movimenti

qualsivoglia modello, ma una creazione originale, ricavata dalla forza formatrice dei colori della composizione, operante in modo analogo alla luce colore fluente nell’universo.

DIE SCHÖPFERISCHE TAT DER FARBE.

Die goetheanistische Malerei erreicht ihr höchstes und wahres Ziel, wenn die Farben in ihrer Gesamtheit -wie beschrieben - den wechselnden Erfordernissen entsprechend ausgeführt werden, wenn ein Gleichgewicht sowie ein vollendeter Sinn erreicht ist und Gesten und Formen – bedingt durch die sich entwickelnden Situationen – Leben gewonnen haben. Dann wird man von ihnen sagen können, dass sie aus der Farbe heraus geschaffen wurden.

Gesten und Formen bringen, als deutlichste und abschliessende Elemente dieser Farbenwelt, ihre Quintessenz zum Ausdruck. In den Formen ist also der verborgene Gehalt dieser besonderen Welt der Farben enthalten.

Dem Künstler wird es obliegen, ihre Bedeutung zu interpretieren, herauszuarbeiten und deutlich zu machen. So macht er allmählich den Inhalt dieser Welt verständlich; die IDEE, das MOTIV des Gemäldes tritt in Erscheinung.

Jede Anwendung von Farben offenbart ihre Taten zur Schaffung von Form, es ist ein unendlich kleiner Teil eines Universums von fliessenden Farben in ununterbrochener Aktivität.. Diese Formen sind nicht statisch, sondern ununterbrochen aktiv und bringen daher nicht einen, sondern mehrere mögliche Inhalte zum Ausdruck.

Je nach der eigenen intuitiven Fähigkeit wird der Künstler diesen oder jenen Ausdruck aufgreifen und seinem Gemälde dauerhaft und endgültig einprägen und es mit einer IDEE, einem MOTIV abschliessen, das von der FARBE GESCHAFFEN wurde.

DARSTELLENDE MALEREI?

Obwohl man in der Kunst weder Regeln noch Grenzen aufstellen kann, verfolgt der Künstler, welcher die anthroposophischen oder goetheanistischen Prinzipien verwirklichen will und sich dabei der Bedeutung dieser originellen künstlerischen Strömung voll bewusst ist, gegenüber dem Dilemma figurative oder nicht figurative Malerei ganz bestimmten Zielen.

Eine voll ausgeführte Farbkomposition, – obwohl ohne den geringsten Hinweis auf Formen der Darstellung – in welcher nach den erwähnten Prinzipien die Farbe lebendig und pulsierend erscheint, ist fähig, die Seele des Betrachters bis in die Tiefen zu ergreifen. Sie fesselt und nimmt das Gefühlsleben gefangen. Mit anderen Worten, nach der anthroposophischen Terminologie ergreift sie die Empfindungsseele.

Ein figuratives Gemälde, das eindeutig verständliche Inhalte darstellt, erreicht dagegen die Sphäre des Denkens, den Bereich des klaren Bewusstseins. Wenn dann die Darstellung, die Idee wirklich aus einer lebendigen und pulsierenden Farbkomposition hervorgegangen ist, die gemäss der goetheanistischen Prinzipien verwirklicht wurde, dann wird sie auch bis in die Tiefe des Ich-Kerns eindringen, der in der Anthroposophie als „Bewusstseinsseele“ bezeichnet wird, und wird dann schlafende Kräfte des Höheren Ich, das heisst des „Geistselbst“, wecken.

Unter diesem Gesichtspunkt ist ein darstellendes Bild vollständiger, obgleich auch eine einfache Farbstudie, wenn sie Leben hat, ein Kunstwerk ist und die Seele des Betrachters erheben kann.

Es muss jedoch gesagt werden, dass eine anthroposophische Malerei (oder goetheanistische, wenn man so will) die wahrhaft ihre Aufgabe erfüllen und die gesetzten Ziele erreichen will, nicht vermeiden kann, eine zunächst abstrakte aber lebendige Farbkomposition auszuarbeiten, um schliesslich aus ihrem Gehalt eine Darstellung, eine IDEE zu entwickeln.

AQUARELL – MALEREI

Das im allgemeinen in der goetheanistischen Malerei verwendete Mittel ist das Aquarell, weil Dank ihrer Flüssigkeit die Farbe sich sehr lebendig erhält und daher dem Benutzer erlaubt, die moralische Tat fast so wie bei der Licht-Farbe wahrzunehmen. Und nicht nur das, sondern auch, weil das Aquarell das einzige Mittel ist, das – gerade wegen seiner Flüssigkeit – erlaubt, Schichten und Farbschleier zu erzielen und dabei eine faszinierende Transparenz zu erhalten.

Es ist klar, dass bei diesem neuen Verfahren in der Malerei das Aquarell nicht gemäss der klassischen Technik behandelt wird, sondern mit neuen speziellen Techniken, welche erlauben, es trotz Erreichen einer ungewöhnlichen Intensivierung der Farbtöne lebendig und transparent zu erhalten.
Es ist gerade die erhaltene Intensität der Farben und der Zauber der auf diese Weise zu erzielender Durchsichtigkeit, welche im Betrachter tiefe und vibrierende Empfindungen wecken.

 
     
         
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